I’ll call thee, Jazzchor!

von Christoph Peukert

Na, was heckt denn da der Jazzchor Dresden schon wieder aus? Auf dem sonst menschenleeren Postplatz versammelt sich eine Gruppe aufgeregt plappernder Chormitglieder mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Offensichtlich fiebern alle im Schein der roten Abendsonne im länger werdenden Schatten des Schauspielhauses einem imposanten Ereignis entgegen. Aber ohne Chorkleidung? Etwa mal wieder ein Flashmob? Aber warum denn ausgerechnet hier auf dem Postplatz, wo sich sonst kein Mensch aufhält?! Da ist doch was faul in der Stadt Dresden!

Schlag 21.00 Uhr.
Im Innern des Gebäudes hört man Menschen rufen: „Des Himmels Antlitz glüht, ja, diese Feste, dieses Weltgebäude…“ Bereits zum hundertsten Mal widerfährt Hamlet der Geist seines Vaters. Und schließlich fasst er den Entschluss seine Getreuen zu hintergehen. „Dies scheint mir der Antrieb […] und der Grund von diesem Treiben und Gewühl im Lande!“

Mit diesen Worten fällt auf der Hinterseite des Schauspielhauses die Tür des Bühneneingangs ins Schloss. Auf dem Postplatz ist es auf einmal wieder still – fast totenstill. Im Hinterhaus dagegen herrscht nun hastiges Treiben. Um die 30 Sängerinnen und Sänger laufen an dem freundlich nickenden und ebenso breit grinsenden Pförtner vorbei und schlängeln sich das Treppenhaus hinauf in einen Probenraum. Nach dem kurzen Einsingen dann die Lagebesprechung:

„Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage!“ Hundertmal schon beschwor Hamlet das Dresdner Publikum. Schon sooft gebot er ihnen Einblicke in seinen gewagten Plan. Und das Publikum meint bereits zu wissen, in welche Intrigen dieses Schauspiel noch führen wird, welch schicksalhaftes Ende die dargestellten Figuren erwartet. „Doch es gibt mehr Dinge im Himmel und auf der Erde, als eure Schulweisheit sich träumt!“ Und Hamlet grinst…

Punkt 22.00 Uhr.
„Alle Beteiligten zur Beerdigung bitte zur Bühne“, knarzt es aus dem Lautsprecher im Hinterhaus. Wieder läuft der Chor durch die Gänge des Schauspielhauses. Durch eine kleine Tür geht es in die Vorhalle zum Publikumsbereich. Dort teilt sich der Chor, ein Teil besetzt die Eingänge links, der andere die Eingänge rechts. Noch 10 Minuten, dann sollte das Schauspiel enden.

„Bereit sein ist alles!“ Hamlet ist mittlerweile allein auf der Bühne. In seinem (getäuschten?) Wahnsinn kämpft er gegen sich selbst, schizophren vereint er inzwischen alle Figuren des Schauspiels in sich. 22.10 Uhr. Hamlet wird getroffen und stirbt. Schreiend klagt er über sein Leid und den Schmerz. 

22.15 Uhr.
Hamlet stirbt noch immer. Draußen vor den Eingangstüren des Zuschauerraums hört man letzte wehleidige Schreie. Plötzlich verstummt alles. Der Rest ist Schweigen.

22.20 Uhr
Es brandet Applaus auf. Dieser verstärkt sich nochmals, als Christian Friedel alias Hamlet die Bühne betritt und sich verbeugt. Wenig später öffnen sich die Eingangstüren und der Jazzchor Dresden betritt unter Anmoderation von Hamlet/Christian Friedel die Bühne.
Was nun folgen sollte, ließ sowohl dem Publikum als auch den übrigen Schauspielern den Mund offen stehen. Die  a capella-Version von „I’ll call thee, Hamlet“ erklingt – im Beisein der Urheber „Woods of Birnam“ und ca. 800 Zuschauern – schließlich dort, wo das Original erstmals (zur Uraufführung von Hamlet, also vor hundert Vorstellungen) ins Leben gerufen wurde.

Nach fünf Minuten verhallen die letzten Töne im Saal. Und nun stand nicht nur der Chor vor dem Publikum, sondern auch das gesamte Publikum vor dem Jazzchor Dresden. Minutenlang wurde gejubelt und applaudiert, bevor alle den Saal verließen: das Publikum durch die Tore auf den Postplatz, die Schauspieler samt Jazzchor hinter die Bühne.

Dort wurde gefeiert mit Sekt, O-Saft und einer riesigen Torte, von der wahrscheinlich das gesamte Schauspielhaus noch den verbleibenden Monat leben kann. Der Jazzchor Dresden und Woods of Birnam lernten sich im Laufe des Abends noch näher kennen und ließen die Vorstellung und das besondere Erlebnis gemeinsam ausklingen.

Was nach diesem wunderbaren Erlebnis bleibt, sind die Erinnerungen an den Abend, ein gutes Gefühl im Bauch und jede Menge Dankbarkeit, dass wir „I’ll call thee, Hamlet“ vor so vielen Menschen im Schauspielhaus Dresden zum einhundertsten Jubiläum der Inszenierung präsentieren durften.